“Ich habe das Vogt-Kay… Ich habe das Vogt-Koyanagi-Harada Syndrom. Vogt-Koyanagi-Harada.” Ich wiederholte den Namen dieser seltenen Erkrankung immer wieder in meinem Kopf. “Das merke ich mir doch nie”, murrte ich. Eine Jahresinzidenz von 1:400.000, die meisten Betroffenen sind Japaner oder Latinos, auch die indigenen Völker Amerikas erkranken verstärkt daran. Weiße europäische Frauen gehören eher nicht zum Beuteschema des Syndroms. Und trotzdem habe ich es. Ich habe das Vogt-Koyanagi-Harada Syndrom. Fuck you.
Nachdem ich die Schrift auf meinem Smartphone aufs Maximum gestellt hatte, konnte ich die Fachartikel halbwegs lesen. Blind könnte ich werden, blöd tatsächlich nicht. Das finde ich ungemein beruhigend. Das Kortison verbesserte meinen Visus Tag für Tag und ich wartete noch auf die gefürchteten Nebenwirkungen. Noch war ich kein Mondgesicht geworden. Aber lieber ein sehendes Mondgesicht sein als eine Blinde mit vor Unglück eingefallenen Wangen.
Die Tage waren anstrengend. So wahnsinnig anstrengend. Ich konnte kaum schlafen, obwohl mein Kopf doch so benebelt war. Frühmorgens stand ich auf, tappte durch die dunkle Wohnung und versuchte, die Pausenbrote für die Kinder vorzubereiten. Hin und wieder klappte ich meinen Computer auf, in der Hoffnung, an diesem neuen Tag wieder ein klitzekleines bisschen besser lesen zu können. Es war frustrierend. Ich nahm das Handy und erledigte die notwendigsten Dinge damit, weil es aus irgendeinem Grund leichter zu bedienen war. Und der Zoom. Der Zoom ist goldwert.
“Du steckst das so gut weg”, sagte eine Freundin. “Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen würde.”
Ich zuckte mit den Schultern. Wahl hatte ich ja keine. “Ich glaube, ich bin den Krisenmodus einfach gewöhnt. Ich mache ja mein Leben lang nichts anderes als zu kompensieren. Endlich macht sich dieser Skill mal richtig bezahlt.”
Als ich an diesem Nachmittag die Kinder von der Schule abholen wollte, fuhr der Bus an mir vorbei. Er fuhr einfach vorbei, ohne stehen zu bleiben. Dieses Arschloch von Busfahrer. Ich brüllte. Ich brüllte meine ganze Wut, all den Ärger, die Frustration und Angst die Straße hinunter und diesem beschissenen Bus hinterher. Tränen strömten über meine Wangen. Eine Radfahrerin fuhr vorbei. Sie sah mich an, aber ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen und den Ausdruck darauf schon gar nicht. Da war nur ein grauer Fleck. Es war mir ohnehin einerlei. Sollte sie mich doch verwirrt, ängstlich oder verächtlich ansehen. Ich hatte gute Gründe, hier zu stehen und mir die Seele aus dem Leib zu brüllen.
Einmal angefangen, konnte ich kaum mehr damit aufhören. Ich hatte mir im Blindeninstitut einen Button besorgt. Gelb mit drei schwarzen Punkten darauf. Ich empfand das Zeichen als meinen Freifahrtschein für die öffentliche Entladung meiner unbändigen Wut über die ganze Situation. Ich schimpfte lautstark über den Postboten, der den Sack voller Hundefutter am unteren Ende der Treppe abgestellt hatte. Ich ärgerte mich voller Inbrunst über das Taxi, das mich eine halbe Stunde vor dem Haus warten ließ und damit meinen ohnehin streng getakteten Zeitplan durcheinander warf. Als der Frust zu groß wurde, beschloss ich zum Schreien in den Wald zu gehen. Drei Meter weit folgte ich dem Weg, der direkt neben den Häusern der Siedlung anfängt. Dann war ich von Bäumen umgeben. Das zählt doch schon als “im Wald stehen”, oder nicht? Ich hob ein Stück Holz vom Boden auf und schmetterte es brüllend gegen einen Baum. Hoffentlich hatte ich das Nachbarskind nicht aus dem Mittagsschlaf gerissen.