Urlaubsreif

„Ob ich in dem Zustand auf Urlaub fahren kann?“ Ich blickte dem Schweizer ins virtuelle Abbild seiner Augen, die hunderte Kilometer weit weg saßen und mich dennoch ansehen konnten. „Kannst du deine Mutter nicht allein mit den Kindern fahren lassen?“, fragte er und nahm einen Schluck Tee.
„Natürlich, aber wie lange sage ich denn jetzt schon, dass ich urlaubsreif bin?“
„Seit wir uns kennen“, erwiderte der Schweizer grinsend. Ich warf die Hände in die Luft.
„Na eben. Absagen ist keine Option. Ich werde mich einfach vor der Sonne verstecken.“
„Kauf dir eine Gletscherbrille. Mit der darfst du zwar nicht Auto fahren, aber das kannst du derzeit ja sowieso nicht.“
„Aber die Dunkelheit“, entgegnete ich. „Ich ertrage diese Dunkelheit kaum. Jene, die die Netzhautablösung verursacht, und die von den dunklen Brillengläsern noch verstärkt wird. Sie macht mich rasend. Ich hadere mit jeder Trübung meiner Wahrnehmung, weil ich schon mein halbes Leben gegen diesen Nebel in meinem Kopf ankämpfe.“
„Wegen des Traumas?“, fragte der Schweizer wie gewohnt knapp.
„Ja. Vor einem Jahr hätte mich dieses VKH-Syndrom wahrscheinlich in die Psychiatrie gebracht. Jetzt staune ich selbst, wie wenig es meine andere Erkrankung beeinflusst.“
„Gut gemacht. Du bist weit gekommen in diesem letzten Jahr.“ Der Schweizer lächelte zufrieden und ich sah so etwas wie Stolz in seinen Augen aufblitzen. Wir hoben die Tassen. Seine gefüllt mit Tee, meine mit Kaffee. Wenn ein Duracellhase auf Speed etwas braucht, dann ist es Koffein.

Das Vogt-Koyanagi-Harada-Syndrom führt zu Lichtempfindlichkeit.

Ich kaufte mir tatsächlich eine neue Sonnenbrille. Keine spezielle für den Gletscher, aber eine gute. Und hübsche. Ich mochte es, wenn sie auf meiner Nase saß und die Farbe ihrer Gläser fühlte sich nicht an, als wolle sie mir etwas von dem kostbaren Licht rauben, das ich so dringend benötigte. Und dann fuhren wir. Ab in die Ferien. Wir packten die Kinder ein, die endlich ihre Zeugnisse bekommen hatte, knallten den Kofferraumdeckel zu und sausten Richtung Süden. Das Kortison hielt mich seit 3:30 wach, aber von Müdigkeit fehlte jede Spur.

Bald. Bald würden wir am Meer sein und die Wellen schmecken, die der Wind an unsere Lippen trug. Wir würden Pasta essen und die Zehen im Sand vergraben. Und ich würde dem Glitzern des Wassers und dem Schillern der Luft zusehen. Leuchtende Fäden, die sich wie fröhliche Regenwürmer zwischen mir und der Realität winden, bis ich nicht mehr erkennen kann, ob sie tatsächlich existieren oder bloß vom Vogt-Koyanagi-Harada-Syndrom kommen. Aber eigentlich… eigentlich ist das ohnehin einerlei.

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