Dienstag.
Kontrolle. Doktor X hatte Dienst und wir plauderten. Die Ambulanz war wie immer zum Bersten voll und obwohl nicht all diese Menschen seine Patient*innen waren, bewunderte ich trotzdem die Gelassenheit, mit der er mich untersuchte. Die Termine hier sind stressig genug, aber das gesamte Personal tut sein Möglichstes, um die allgemeine Anspannung nicht zusätzlich anzuheizen.
„Wenn es unter der Reduktion des Kortisons schlechter wird, müssen Sie gleich kommen. Ich habe diese Woche auch am Sonntag Dienst.“
„Ok“, antwortete ich und dann fiel mir ein, was ich heute Morgen beim Anblick meiner Küchenarbeitsplatte entdeckt hatte. Nein, diesmal waren es keine Ameisen gewesen. Die hatten sich aus irgendeinem Grund verkrümelt, obwohl sich am Zustand meiner Küche nichts geändert hat und sie weiterhin ausreichend Nahrung finden würden. Aber dort auf diesem schrecklichen Muster war ein gräulicher Fleck. Irgendwie kontrastarm. War das nicht schon besser gewesen? Oder war es mir einfach nicht aufgefallen? Ich schilderte Doktor X meine Beobachtung. An seinen Augen erkannte ich, dass er nachdachte. „Ok, wenn Ihnen noch etwas auffällt, melden Sie sich, ok? Dann müssen wir vielleicht mit der zusätzlichen Therapie beginnen.“
„Abgemacht.“
Mittwoch.
Der graue Fleck machte es sich auf der Arbeitsplatte gemütlich. Ich beobachtete ihn, während ich einen Kuchen buk. Backen hilft gegen Stress, behaupten Studien. Fett und Zucker wohl auch. Behaupte ich.
Donnerstag.
Ich klappte den Laptop auf und kochte Kaffee. Als ich den Blick auf meine E-Mails richtete, blinzelte ich. Da war eine verschwommene Stelle in der Mitte des Bildschirms. Genau dort, wo meine Augen fokussieren wollten, um den Text zu erfassen. Ich nahm die Brille ab. So ging es besser. Als ich sie wieder aufsetzte, waren die Buchstaben so verschwommen, dass ich rein gar nichts erkannte.
„Verdammt“, sagte ich zu einer Freundin am Telefon. „Ich fürchte, ich kann das nicht länger ignorieren. Es wird schlechter.“
„Und jetzt?“
Woher soll ich das wissen? Ich nahm die Brille noch einmal ab. Das Lesen klappte. Ich setzte sie auf, die Buchstaben verschwammen und formierten sich erst nach einer Weile zu einem lesbaren Text. Also schrieb ich Doktor X ein Mail und erklärte die Situation. Für den nächsten Tag hatten wir doch eine Reduktion des Kortisons geplant und mein Bauch sagte mir, dass dieses Vorhaben nun keine gute Idee mehr war. Ich wusste, dass ich morgen früh auf die Klinik fahren und meine Augen untersuchen lassen sollte, aber ich erwartete ein Paket. „Delivery until 6 pm“, sagte die Seite. Nicht so aussagekräftig, dass man einen Tag danach planen könnte.
Um 22:30 kam die Antwort von Doktor X: Ich solle das Kortison auf keinen Fall reduzieren und wenn’s die Zeit nur irgendwie zulässt, morgen in die Ambulanz kommen. Notfalls könne er sich die Bilder auch nachmittags von zu Hause aus ansehen.
Danke, schrieb ich und klappte den Laptop zu. Was für ein Glück ich habe, an solche Ärzte geraten zu sein. Trotzdem schlief ich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch ein.
Freitag.
Die Augenbrauen rieselten. Sie rieselten auf die Tastatur meines Laptops und auf meine gelben Shorts, die ich nur anzog, wenn ich ins Krankenhaus fuhr. Die Ärzte mussten bestimmt schon denken, ich besitze nur eine einzige Hose. Die Unschärfe war nun wieder etwas besser, aber frühmorgens war ich schließlich auch ausgeschlafen und sämtliche Muskeln meines Körpers erfreuten sich voller Tatendrang an ihrer Arbeit. Das rechte Auge juckte und brannte jetzt allerdings ein wenig. Da war ein Fremdkörpergefühl und etwas, das ich nicht genau definieren konnte, das sich aber nicht richtig anfühlt. Ich dachte an die Lieferung, die ich bis zum Ende dieses Tages erhalten sollte, und überlegte. Paket oder Augen? Paket oder Augen? Ich versuchte, bei FedEx einen Menschen zu erreichen, um etwas Genaueres über den Lieferzeitpunkt herauszufinden, und scheiterte an dem endlosen Tonband, das mich von einem Bot zum nächsten leitete. Also ging ich duschen und machte mich durch die erdrückende, sommerliche Hitze auf den Weg ins Krankenhaus. Augen schlagen Paket.
Wie immer waren alle lieb. Ich scherzte und lachte mit der Schwester, die das OCT machte, und wurde wenig später ins Behandlungszimmer gerufen. Dort saß ich einem Assistenzarzt gegenüber, den ich noch nicht kannte. Er begutachtete die aktuellen Bilder, verglich sie mit den alten. Alles ok. Die Flüssigkeit war zurückgegangen.
„Oh“, machte ich und eine Mischung aus Erleichterung und Erstaunen breitete sich in mir aus.
Der Arzt sah mich an, überlegte eine Weile, dann machte er einen Sehtest. „Und Ihre Brille? Wann wurde die denn zuletzt angepasst?“, fragte er.
„Wenige Wochen, bevor das VKH-Syndrom angefangen hat. Da hat sie gut gepasst“, antwortete ich.
Der Arzt maß die Brille aus, lachte auf. „Tja, die ist jetzt zu stark.“
„Wie bitte? Heißt das etwa, das Vogt-Koyanagi-Harada Syndrom hat dafür gesorgt, dass meine Augen besser geworden sind?”, fragte ich verwundert.
Der Arzt hob die Schultern. „Sie sind mit dieser Brille auf jeden Fall eine halbe Dioptrie überkorrigiert. Deshalb brauchen Ihre Augen auch so lang, um zu akkommodieren.”
Da saßen wir also und sahen einander ratlos an.
„Entschuldigung, dass ich deswegen hergekommen bin.“
„Nein, das macht doch nichts. Lassen Sie sich eine neue Brille machen.“
„Lohnt sich das jetzt schon oder wird’s noch besser? Ich mag nicht alle zwei Wochen neue Brillengläser bezahlen.“ Der Arzt sah sich noch einmal das OCT an. Unter der Netzhaut war jetzt nur mehr ein kleiner schwarzer Fleck zu sehen. Der klägliche Rest jener Flüssigkeit, die mir meine Sehschärfe fast zur Gänze geraubt hatte.
„Ich denke, Sie können es schon wagen. Das bisschen Flüssigkeit wird an der Sehschärfe nicht mehr viel verändern.“
„Ok. Dann nächstes Mal zum Optiker und nicht hierher. Danke!“ Ich schnappte meinen Rucksack und eilte davon. Peinlicher Auftritt Ende. Auch das Fremdkörpergefühl war auf wundersame Weise verschwunden. Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass ich der hoffnungslose Fall eines Hypochonders bin?