Die Diagnose

“Wir müssen eine Leitung legen”, sagte der Arzt, der mich hinter der Tür mit der Aufschrift “Photo” erwartete. Ich streckte meinen Arm aus und tippte auf eine Vene in der Ellenbeuge. “Die ist gut”, sagte ich. Eine Krankenschwester wuselte um uns herum. Hinter einem Untersuchungsinstrument saß eine weitere Frau, deren Hose von einem so kräftigen Pink war, dass selbst ich die Farbe wahrnehmen konnte.
“Tut das weh? Brennt es? Ist es kalt?”
“Nein.”
“Es fühlt sich nicht kalt an? Kein Brennen?”, fragte der Arzt noch einmal, während er Kochsalzlösung in meine Vene spritzte.
“Nein.” Eine Träne lief über mein Gesicht. Die erste überhaupt an diesem Tag. Und ich hatte mich schon gewundert, warum ich all das bisher so stoisch hingenommen hatte.
“Haben Sie Schmerzen?”
“Nein. Existenzängste”, stieß ich hervor. “Ich habe Angst, nie wieder lesen und schreiben zu können.”
Der Arzt, der sich um meine Leitung kümmerte, schien damit nicht viel anfangen zu können. Die Schwester hingegen reagierte sofort. “Bei uns sind Sie jetzt in den besten Händen, damit Sie das bald wieder können. Sie werden sehen!” Irgendetwas am Klang ihrer Stimme beruhigt mich. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.
“Wenn Sie möchten, können Sie die Maske abnehmen. Dann bekommen Sie besser Luft.” Ich tat, was sie sagte und putzte mir die Nase. Dann ging es los.

Während der Arzt den Farbstoff langsam in meinen Körper fließen ließ, machte die Frau mit der pinken Hose die notwendigen Aufnahmen. “Ein bisschen mehr, bitte”, sagte sie manchmal und ich spürte, wie der Druck in meiner Vene daraufhin ein wenig zunahm.
“Tut Ihnen etwas weh?”, fragte der Arzt zwischendurch. Ich verneinte. Vielleicht war mit meinem Sehvermögen auch mein Schmerzempfinden verschwunden. Irgendwann waren die Aufnahmen fertig. Ich ging zurück in die Ambulanz. In dem schmalen Gang war immer noch die Hölle los. Ich verzog mich in die Ecke beim Fenster und wartete und wartete und wartete.

Als ich endlich aufgerufen wurde, rief der Arzt fröhlich: “Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Wir mussten auf jemanden von unserem Spezialteam warten und der Kollege hat heute keinen Dienst. Aber er hat zurückgerufen und sich die Bilder trotzdem angesehen und jetzt haben wir gute Nachrichten: Wir wissen, was Sie haben!”
“Ok”, antwortete ich und wunderte mich über diese Form der Begeisterung. Ich musste mich setzen. Ein weiterer Arzt kam hinzu. Zu zweit sahen sie mich an und ich versuchte, den Ausdruck auf ihren Gesichtern zu deuten. Schwierig, wenn man keine Gesichter sehen kann.
“Es ist eine Autoimmunerkrankung. Das Vogt-Koyanagi-Harada-Syndrom.”
“Das was?”
“Vogt-Koyanagi-Harada, auch VKH genannt”, wiederholte der Arzt. “Die Prognose ist gut, wenn man es früh genug erkennt. Die Erkrankung kann auch eine Reizung der Hirnhäute verursachen sowie Schäden am Gehör, an Haut und Haaren. Auch Ihre ungleich großen Pupillen könnten daher kommen, weil der dafür zuständige Hirnnerv betroffen sein könnte.”
“Aha”, machte ich und wusste nicht, in welche Ecke meines Gehirns ich diese Informationen schieben sollte.
“Was denken Sie jetzt?”, fragte der Arzt.
“Ganz ehrlich? FUCK!” Am liebsten hätte ich gefragt, ob es irgendwo im unterirdischen Tunnelsystem des Krankenhauses einen schalldichten Raum gibt. Eine Art Schreiraum für jene Patienten, die zwischendurch laut brüllen möchten.
“Möchten Sie etwas trinken? Einen Schluck Wasser?”
“Nein, danke.”
“Haben Sie Fragen?”
“Ist das lebensbedrohlich? Wirkt sich das irgendwie auf meine Lebenserwartung aus? Oder werde ich geistig abbauen?” Blind zu werden, ist die eine Sache. Blöd zu werden, wäre allerdings unerträglich. Für einen kurzen Moment dachte ich, dass ich mich in diesem Fall leider umbringen müsste. Mit Blindheit könnte ich irgendwie umgehen. Langsam vor mich hin zu vegetieren und nicht mehr die gewohnte Leistung erbringen zu können, kam mir hingegen unerträglich vor.
“Nein”, sagte der Arzt schnell. “Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.” Er erklärte mir noch allerhand. Blut müssten sie noch abnehmen, um Syphilis auszuschließen. Er sprach über die Behandlungsmethode und druckte mir ein Rezept aus. Kortison, Magenschutz, Kalzium.
“Haben Sie noch Fragen?”
“Ja. Wie lange wird das dauern?”
“Die Untersuchung heute? Ein paar Dinge müssen wir uns noch ansehen, aber dann können Sie gehen.”
“Nein. Ich meinte, wie lange es dauern wird, bis ich wieder lesen kann”, erwiderte ich. Wie lange ich hier noch sitzen musste, war mir doch völlig egal.
“Das ist schwer zu sagen.”
“Ich muss bis August zwei Bücher fertig schreiben und die Korrekturen eines weiteren Buches durchgehen”, erklärte ich. Durch den grauen Schleier erkannte ich, wie der Arzt den Mund verzog.
“Tut mir leid. Das hängt von so vielen Faktoren ab, dass ich Ihnen darauf keine Antwort geben kann.”

Ich ließ den Rest über mich ergehen. Augen eintropfen. Warten. Blutabnahme. Noch einmal ausgiebig in beiden Augen leuchten. Dann wurde ich entlassen.
“Kommen Sie am Donnerstag wieder”; sagte der Arzt. “Und alles Gute!”
“Danke”, erwiderte ich und rief ein Taxi. Ich werde nicht blöd. Vielleicht blind, aber immerhin nicht blöd. Und sterben muss ich auch nicht. Zumindest nicht gleich und nicht an diesem Syndrom. Das waren doch gute Nachrichten. Als ich endlich auf der Rückbank des Taxis saß, konnte ich es kaum erwarten, endlich nach Hause zu kommen.

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