Es gibt erste Male, die vergisst man nicht. Ich kann mich an den Geruch der Luft erinnern, als ich zum ersten Mal den Flughafen in New York City verließ und mich dabei so ein warmes Gefühl durchströmte. „Zu Hause“, dachte ich und fand in dieser Stadt mehr, als ich je zu hoffen gewagt hätte. Oder diese anfänglichen Tage und Wochen mit einem Neugeborenen, in denen jede Stunde erfüllt ist von ersten Malen; von zauberhaften wie auch absurden.
Wer etwas so Kostbares wie die Sehkraft für immer verloren geglaubt hat und sie doch wiederfindet, erlebt ein wahres Feuerwerk an neuen ersten Malen. Man könnte natürlich ganz nüchtern behaupten, dass man es lediglich wieder sehen kann, aber es ist viel mehr als das. Es ist eine Eroberung, ein Zauber, das größte Glück. Die Nagelschere in die Hand zu nehmen und sich die eigenen Fingernägel schneiden zu können, ohne dabei Gefahr zu laufen, Opfer einer unbeabsichtigten Selbstamputation zu werden, fühlt sich gut an. Als die Kinder an der Reihe waren, kniffen sie die Augen zusammen und hielten die Luft an.
“Bist du sicher, dass du genug siehst, Mama?”, fragte das große Kind.
“Ich denke schon. Und du hängst doch nicht allzu sehr an deinen Fingern, oder?”
“Haha”, machte das Kind und öffnete nun doch lieber wieder die Augen, um den Vorgang argwöhnisch zu beobachten. Zur allgemeinen Verwunderung behielten alle Beteiligten ihre Finger und Zehen. Es floss nicht einmal Blut. Und es erfüllte mich mit einer eigentümlichen Zufriedenheit, in dieser klitzekleinen Kleinigkeit des Alltags nicht länger auf Hilfe angewiesen zu sein. Dass ich wenig später eine vermeintliche Zecke entfernen wollte, die sich doch nur als Dreck entpuppte, wollen wir an dieser Stelle mal außer Acht lassen.
Und dann prasselten sie also auf mich ein, diese ersten Momente. Ich konnte plötzlich wieder erkennen, was meine Finger taten, wenn ich Gemüse schnitt und verletzte mich dabei nicht mehr ständig. Ich sah, welcher Bus sich der Haltestelle näherte, und erkannte wieder, wofür die Plakate am Straßenrand Werbung machten. Am allerwichtigsten aber war, dass ich Gesichter wieder sehen und von ihnen ablesen konnte. Den Ausdruck darin, die feinen Nuancen, die einem so viel über das Empfinden des Gegenübers mitteilen und die man sich ohne die Kraft seiner Augen aus vielen anderen Details zusammenreimen muss.
Irgendwann war es dann so weit. “Ich fahre zum Supermarkt”, rief ich den Kindern zu und nahm meine Schlüssel aus dem Regal.
“Mit dem Bus?”, tönte es aus einem der Zimmer.
“Nein, mit dem Auto”, erwiderte ich und betrachtete den schwarzen Schlüssel in meiner Hand, den ich so lange nicht mehr benutzt hatte. Kann ich das noch? Die Kupplung ist links. Oder? Ich verscheuchte die Gedanken und machte mir bewusst, dass es lediglich ein paar Wochen gewesen waren und nicht die Ewigkeit, nach der es sich anfühlte.
“Darfst du das schon?” Das große Kind war ins Vorzimmer geflitzt und musterte mich gleichsam kritisch wie besorgt.
“Ja!”, sagte ich und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. “Bis bald. Wünsche?”
“Eis!”
“Steht schon auf der Liste. Hab dich lieb!”, sagte ich und schloss die Tür hinter mir. Wir winkten einander noch durch das Küchenfenster zu und mich überkam das Gefühl einer gewissen Endgültigkeit. Auto fahren. Gibt es eigentlich etwas Gefährlicheres? Ich blinzelte, um mich zu vergewissern, dass meine Augen tatsächlich funktionierten. Ein paar Glitzerwürmer flitzten über den blauen Himmel, aber die Blätter der Bäume auf der anderen Straßenseite waren so scharf wie vor dem VKH-Syndrom. Ich war bereit für meine erste Autofahrt, auch wenn mein Magen sich bei dem Gedanken zu verknoten schien. Wer krank ist, wird sich seiner eigenen Sterblichkeit bewusst. Wer ins Auto steigt, muss sie ein bisschen vergessen. Ich startete den Motor, legte den ersten Gang ein und fuhr zum Supermarkt.
Für eine Weile taumelte ich also ähnlich wie ein Kind durch die Welt. Die Augen weit aufgerissen vor Staunen und Glück. Aber wie das eben so ist … Man gewöhnt sich auch daran. Leider viel zu schnell und der Zauber verschwindet. Und ehe man sich’s versieht, nimmt man etwas so Wunderbares wie die Fähigkeit des Sehens wieder als absolute Selbstverständlichkeit hin. Im Hinterkopf bleibt nur die schale Erinnerung an eine düstere Zeit und das vage Bewusstsein, dass die Welt mit dem Absetzen der Medikamente wieder verschwimmen könnte.
Ich bin gebeistert von deiner Schreibkraft ! Lg David