Die neue Normalität

Es gibt Dinge, an die man sich niemals wirklich gewöhnen kann, und dann gibt es solche, die werden trotz aller anfänglichen Aufregung so schnell zur Normalität, dass man sich rückblickend nur wundern kann. An einen beinah völligen Sehschärfeverlust hätte ich mich vermutlich niemals gewöhnt. Geht das überhaupt? Ich hätte ihn und all die damit verbundenen Erschwernisse im alltäglichen Leben akzeptieren müssen, aber von Gewöhnung kann wohl nie Rede sein. Mein jetziger Zustand hingegen ist mir mittlerweile vertraut. Auch das wäre für mich vor ein paar Wochen noch unvorstellbar gewesen, aber nun ist es einmal so. Irgendwann fehlt einem einfach die Kraft, sich weiterhin darüber aufzuregen und so verliert der einstige Ausnahmezustand seinen Schrecken, der Puls normalisiert sich und der Alltag kehrt zurück. Zwar in veränderter Form, aber doch ganz offensichtlich. Der Mensch passt sich an, sonst würden ihn die Turbulenzen des Lebens zu viel Kraft kosten.

Ähnlich war es mit den Kindern. Gab es anfangs noch Gemurre, weil gewisse Dinge jetzt nicht mehr so funktionierten, folgte auf ein “Nein, das geht jetzt nicht” bald nur mehr ein Schulterzucken. Dann eben nicht. Wir wollten doch so viel Zeit in unserem liebsten Freibad verbringen. Dem einzigen Freibad, das ich freiwillig betrete. Das ging jetzt nicht. Mit dem Erscheinen der Sehstörungen, des Schwindels und dieser Schwere im Kopf ist es in unerreichbare Ferne gerückt. Es kam mir unvorstellbar vor, diesen ganzen Weg mit dem Auto zurückzulegen. Ich suchte also nach Alternativen für die Kinder, organisierte Treffen mit Freunden, die die Bande mitnahmen, und musste schlussendlich feststellen, dass sie in diesem Sommer trotz der eingeschränkten Mobilität vermutlich mehr schwammen als in den Jahren zuvor. Die Konsequenzen einer negativen Sache müssen nicht zwangsläufig schlecht sein, stellte ich einmal mehr fest.

“Mach’s gut, Papa!”, riefen die Kinder und winkten fröhlich, als wir in den Bus einstiegen. “Pass auf dich auf!”
“Natürlich!”, sagte er und winkte zurück. Nicht so fröhlich. Wir tauschten noch einen ernsten Blick aus, bevor sich die Tür des Busses zwischen uns schob und das Fahrzeug langsam in Bewegung kam.
“Wie lange bleibt Papa diesmal in der Ukraine?”, fragte das kleine Kind.
“Drei Wochen. Merk dir das endlich”, erwiderte das große Kind genervt.
Als er dem Krieg kurz nach seinem Ausbruch das erste Mal entgegengefahren war, hatten wir ein mulmiges Gefühl gehabt. So viel Ungewissheit.
“Und wenn Putin eine Atombombe wirft?”, hatte das kleine Kind gefragt. Wie antwortet man darauf? Jetzt saßen die Kinder auf ihren Sitzen und plauderten fröhlich miteinander, während der Bus mit überhöhter Geschwindigkeit an den verlassenen Haltestellen vorüberrauschte. Elend die, die pünktlich kommen, und nur den roten Lichtern nachblicken können. Wir hatten uns daran gewöhnt, dass ich nicht Auto fahren kann. Wir hatten uns daran gewöhnt, dass der Vater mit kugelsicherer Weste durch die Ukraine zieht. Es würde zu viel Kraft kosten, sich ständig Gedanken zu machen.

“Und die Kinder?”, hatte der Schweizer gefragt und seine Stimme schwoll an vor Entrüstung.
“Was soll mit denen sein?”
“Haben die keine Angst? Machen sie sich keine Sorgen?”
“Doch, natürlich. Aber ich federe das ab, so gut ich eben kann. Wir reden viel. Wir sind zusammen. Sie telefonieren jeden Abend mit ihrem Vater und sie wissen, dass er auf sich aufpasst. Sie wissen auch, was er bisher getan hat, und dass auch dabei nie etwas passiert ist. Man gewöhnt sich an alles.”
Der Schweizer verzog den Mund, aber er sagte nichts mehr. Papa im Krieg, Mama kurzzeitig mehr oder weniger blind und mittelfristig krank. An manche Dinge will man sich eigentlich nicht gewöhnen und tut es trotzdem, weil die Umstände es erfordern. Ich sehe den Kindern zu, die das so ohne jegliches Hadern hinzunehmen scheinen und frage mich, ob ich auch wirklich nichts übersehe. Geht es ihnen tatsächlich gut oder rede ich es mir nur schön? Es ist kein unbeschwerter Sommer, so viel steht fest, aber wir scheinen uns dennoch mit einer neuen Form der Normalität arrangiert zu haben. Maikäfer flieg, der Vater ist im Krieg… Wie schade, dabei sind es doch die Junikäfer, die so schön leuchten. Für dieses Jahr ist ihr Licht leider schon längst erloschen und es hat sich während seiner kurzen Dauer meiner Wahrnehmung vollständig entzogen. Die Welt aber brennt weiter.

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