Nichts. Fast nichts.

Es war Montag. Ich wollte die Augen nicht öffnen, denn ich spürte bereits mit geschlossenen Lidern, dass nichts mehr so war, wie es sein sollte. Meine Augen fühlten sich krank an. Ich zwang mich trotzdem, diesen Tag zu beginnen. Ich konnte doch ohnehin nicht davonlaufen. Dem eigenen Körper entkommt man nicht.

Rechts: In der Mitte alles grau und verschwommen. Wenn ich einen Gegenstand mit diesem Auge fixierte, wirkte er klein und verzerrt. Der Anblick meiner Kaffeetasse erinnerte mich an die zerflossenen Uhren von Dali.
Links: Die Linien machten einen Knick. Die schwarzen Flecke hatten sich vermehrt und die Welt begann auch vor diesem Auge langsam zu verschwimmen.
Ich klappte den Computer auf und schrieb ein E-Mail, das noch dringend raus musste. Dann wartete ich.

Meine Mutter hatte mit einem befreundeten Augenarzt telefoniert. “Sie muss sofort ins Krankenhaus. Wenn es beide Augen betrifft, ist das nicht gut.”
“Aha”, machte ich und fragte eine Freundin, ob sie ab Mittag den Kinderdienst übernehmen könne.
“Der Hund!”, fiel mir ein. Der Hund war wegen unseres geplanten Urlaubs immer noch in der Hundepension und es war wohl für alle Beteiligten besser, wenn er dort noch ein Weilchen blieb. Jede Nachricht, die ich in mein Telefon tippte, fiel mir schwerer. Irgendwann rief ich die Leute nur noch an oder quatschte Sprachnachrichten in das Mikrofon meines Smartphones. Als alles organisiert war, rief ich ein Taxi und fuhr los. Vor dem Krankenhaus leitete ich noch ein allerletztes E-Mail an eine Freundin weiter, die angeboten hatte, meine liegengebliebene Arbeit zu erledigen.
“Ich hoffe, ich habe dir das richtige Mail geschickt”, sagte ich am Telefon. “Ich sehe es nicht mehr. Ich kann nichts mehr lesen. Weder rechts noch links.”
“Scheiße.”

Die Ambulanz der Augenklinik war bis zum Bersten gefüllt. Es war dunkel hier drin. Am Samstag war es mir nicht so düster vorgekommen, aber da konnte ich ja noch sehen. Wie blind hatte ich mich am Samstag schon gefühlt und erkannte jetzt erst, wie lächerlich das gewesen war. Jetzt wünschte ich mir nichts sehnlicher, als so gut sehen zu können wie vor zwei Tagen.
“Nein, ich habe keinen Termin”, sagte ich dem Mann hinter seiner Glasscheibe. Er sah nicht begeistert aus, als er meine Versicherungskarte entgegennahm. “Warten Sie im hinteren Bereich”, ordnete er mir an und ich verzog mich in eine Ecke neben dem Fenster, in der ein leerer Stuhl stand. Mit jeder Minute, die verging, wurde mein Visus schlechter. Keine Gesichter, keine Buchstaben. Ich saß zwischen verzerrten Gestalten, deren Emotionen ich nicht erkennen konnte. Eine Frau reckte sich nach einem Prospekt und ihr Arm wuchs zu einer unnatürlichen Größe heran, während ihr Kopf schrumpfte. Unweigerlich musste ich an “Fear and Loathing in Las Vegas”. Ich hatte den Film viel zu früh gesehen. Als Grundschulkind versteht man ihn nicht, aber er hatte dennoch einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Jemand schrieb mir eine Nachricht, aber ich erkannte den Namen nicht. “Schickt mir Sprachnachrichten”, dachte ich ungeduldig und drückte die Hand auf meine Stirn. Warum tat mein Kopf so weh?

Wieder ein OCT. “Schauen Sie bitte auf den blauen Punkt.”
“Das ist blaues Licht. Und was macht es? Es leuchtet blau”, schoss es mir wieder durch den Kopf. Ob das hier schon jemals irgendjemand gesagt hat? Ob die Krankenschwester verstehen würde, worauf sich das Zitat bezieht? Ich probierte es nicht aus. Nicht reden beim Messen. Klappe halten und Kinn und Stirn gegen die Plastikbügel pressen. Danach warten. Als ich abermals aufgerufen wurde, begrüßte mich der Arzt überaus freundlich.
“Ist es schlimmer geworden?”, fragte er. Ich erkannte seine Stimme, auch das Haar kam mir bekannt vor. Oh, das musste derselbe Arzt sein wie am Samstag. Ich freute mich, war erleichtert, dass ich meine Geschichte nicht noch einmal erzählen musste.
“Ja, viel schlimmer”, antwortete ich. “Ich sehe fast nichts.”
“Ok, wir schauen uns das an.” Er klang nicht aufgeregt, als er das sagte und sein Instrument vor mein Gesicht schob. Das war gut. Ich mag es, wenn Ärzte ruhig bleiben. Dann begann er, mich zu durchleuchten.

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