Aufstehen, arbeiten, die Kinder wecken und motivieren, sich diese allerletzten Tage noch zur Schule zu schleppen, Frühstück machen, Pausenbrote richten, ab ins Auto, danach nach Hause und mit Hund und Kater in den Wald. Weiter arbeiten, irgendwann den Haushalt zumindest rudimentär schmeißen, einkaufen und organisatorischen Kram für die Familie erledigen. Manchmal wollen auch noch Freundschaften gepflegt, die eigenen Tränen und die der Kinder getrocknet werden und so etwas wie Selbstfürsorge darf ja auch nicht zu kurz kommen… „Ich kann nicht mehr“, hörte ich mich selbst in den Monaten vor meiner Erkrankung immer öfter und zu ganz unterschiedlichen Menschen sagen. Ich kann mich nicht mehr täglich durch den Morgenverkehr quälen, der durch die sommerliche Baustellenflut zu einem wahren Spießrutenlauf geworden war. Ich kann mich nicht mehr um jeden Pups selbst und allein kümmern. Ich kann nicht mehr an drei Fronten arbeiten und zugleich voll und ganz auf die emotionalen Bedürfnisse zweier kleiner Menschen eingehen. Ich muss meine Prioritäten neu sortieren, sonst werde ich noch krank!
Zack. Ich wurde krank. Hallo, Vogt-Koyanagi-Harada-Syndrom. Hallo, Prioritäten! So klar wie mit diesem schlechten Visus hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Je verschwommener die Welt um mich war, desto deutlicher erkannte ich, was mir wirklich wichtig war: die Kinder, meine Bücher und ein ausgewählter Kreis von Personen, die mir in jeder Lebenslage guttun. Und ich konnte nicht länger durch die Tage hetzen. Die Möglichkeit, ins Auto zu springen und von A nach B, weiter zu C zu zischen und dabei noch einen Umweg zu D zu machen, fiel von einem Tag auf den anderen weg. Ich musste Bus fahren. Und Taxi. Es waren viele Stunden, die ich auf einmal in diesen Verkehrsmitteln verbrachte.
Sitzen und aus dem Fenster schauen. Plötzlich hatte ich Zeit, auf all meinen Wegen durch die Stadt über Texte nachzudenken. Neue Ideen entstanden. Die Kinder und ich dichteten auf dem Weg zur Schule ein Lied und freuten uns über das Ergebnis. Ich konnte viel intensiver Musik hören als im Auto, dabei die Augen schließen und darauf vertrauen, dass ich trotzdem sicher am Ziel ankommen würde. Viel langsamer natürlich und meistens nicht planmäßig, aber ich spürte eine gewisse Art der Entlastung. Die Langsamkeit kann eine Wohltat sein, wenn man sich auf sie einlässt.
Während das Kortison mich durch die Tage und Nächte peitschte, lehrte mich die Unzuverlässigkeit des öffentlichen Nahverkehrs ein neues Level der Geduld. Ich musste feststellen, dass Kinder problemlos eine Viertelstunde vor der Schule warten können, ohne dass die Welt davon untergeht. Ich erkannte, dass Busse im Baustellensommer ganz eigenen Regeln unterworfen sind und einfach zur Straßenbahn werden. Ich merkte, dass Kunden doch länger auf die Erledigung ihrer Aufträge warten können, als sie es für gewöhnlich vorgeben und dass ich mit weitaus weniger Einkommen überleben kann als gedacht. Ich lernte, dass ich um Hilfe bitten kann. Dass ich Nachbarn und Freunde direkt um etwas fragen und sie für Erledigungen einteilen kann und ich dadurch nicht als Belastung wahrgenommen werde. Vielmehr spürte ich die Freude der Helfenden, die sich nützlich fühlten und tatkräftig etwas zu meiner Entlastung in dieser Ausnahmesituation beitragen konnten. Alles kann so einfach sein, wenn man es einfach sein lässt.