Alten Bekannten über den Weg zu laufen, entpuppte sich als Spießrutenlauf. Ich erklärte natürlich bereitwillig meine Situation und die möglichen Auswirkungen der Erkrankung. Die meisten reagierten betroffen. Dann standen wir uns gegenüber und sahen einander ratlos an. “Wird das wieder?”
“Wahrscheinlich schon. Wir werden es sehen. Haha, was für ein Wortspiel.”
Aber dann gab es da eine kleine und zugleich äußerst hartnäckige Fraktion der zwanghaft positiv Denkenden. Einer davon, ein alter Bekannter, schien eine Art Filter zwischen sein Gehör und die dahinter liegenden verarbeitenden Teile seines Gehirns eingebaut zu haben. Auf welche Art auch immer ich mein Leid klagte, er hörte ausschließlich gute Nachrichten. Mit dröhnender Stimme sagte er: “Du musst das positiv sehen! Glaub immer fest daran, dass es wieder genau so wird wie vorher.”
“Mhm”, machte ich. “Aber trotzdem besteht da eine gewisse Möglichkeit, dass ich nie wieder mit dem Auto fahren kann. Und ich kann derzeit nicht arbeiten, also verdiene ich nichts. Aber da sind Projekte, die fertig gemacht werden müssen. Nicht in zwei Monaten, sondern jetzt.”
“Ach”, sagte er und machte eine abwinkende Handbewegung, als wolle er meine Sorgen wie lästige Fliegen davon scheuchen. “Du fährst bald wieder Auto und arbeiten klappt dann auch. Bis dahin kannst du dich ja krankmelden.”
“Ich bin selbständig…”
“Das geht doch trotzdem irgendwie, oder?”
Ich atmete tief durch. Nein, nicht so wie im System der Angestellten und selbst wenn es Möglichkeiten gibt – ich kann sie derzeit verdammt nochmal kaum lesen und quäle mich durch die Webseiten der Krankenversicherung und des Sozialministeriums oder hänge den halben Tag am Telefon.
“Du machst das schon! Denk einfach positiv!”
Da stand ich also und wollte brüllen: “Hör mal zu, du Idiot! Ich kann gar nicht beschreiben, durch wie viel Scheiße ich in meinem Leben schon gewatet bin. Hätte ich nicht eine so verfickt positive Grundeinstellung, wäre ich gar nicht mehr hier. Verdammte Scheiße nochmal!” Da solche Aussagen nicht gesellschaftsfähig sind, presste ich stattdessen irgendetwas hervor, das so klang wie: “Ja, wird schon werden. Das Kortison hilft ja zum Glück.” Damit hätte dieses Gespräch eigentlich beendet sein können, wäre mein Gegenüber nicht so wahnsinnig hartnäckig positiv gewesen.
“Bei dir wird es bestimmt ein komplikationsloser Verlauf sein. Ich spüre das! Du wirst schon sehen. Und dann wirst du wieder arbeiten können und Auto fahren und bis dahin solltest du dich schonen und ausruhen. Du musst einfach positiv denken.”
“Mhm”, machte ich und sah mich nach einer Fluchtmöglichkeit um.
Toxische Positivität. Der Zwang, jedem Misthaufen etwas Gutes abgewinnen zu wollen. Kann man gewisse Dinge nicht einfach als beschissen hinnehmen und akzeptieren, dass es einem Menschen in seiner Situation nicht gut geht? Das schließt nämlich nicht aus, dass der Betroffene das Bestmögliche aus seiner Lage macht und den Mut dabei nicht verliert. Und trotzdem hat er das Recht zu sagen: Mir geht es nicht gut, ich habe Angst vor der Zukunft und an manchen Tagen weiß ich nicht, woher ich die Kraft nehmen soll, um weiterzumachen. Das sind berechtigte Gefühle. Toxische Positivität spricht einem Menschen jedoch das Recht darauf ab, so zu empfinden. Du fühlst dich schlecht? Dann bist du selbst schuld. Du müsstest es nur positiv genug sehen, dann würdest du nicht leiden. Dein Leid ist deine eigene Entscheidung. Du hättest die Wahl, wie du empfindest und triffst bewusst die falsche.
Das alles mag ja bis zu einem gewissen Grad stimmen, greift aber viel zu kurz. Wer wochenlang in Selbstmitleid zerfließt, keine Hilfe annimmt und sich der Passivität einer Opferrolle hingibt, sollte seinen Umgang mit Problemen eventuell tatsächlich überdenken. Sich nicht gut zu fühlen und in Krisenzeiten Angst zu haben, ist hingegen vollkommen normal und legitim. Die meisten von uns machen ja trotzdem weiter und suchen nach Lösungen. In manchen Situationen kann man aber nur von Tag zu Tag leben. Wenn ich heute kaum das Bett verlassen mag, ist das also in Ordnung. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass ich morgen wieder die Energie haben werde, um Formulare auszufüllen, Arzttermine zu vereinbaren und mit den Kindern einen Kuchen zu backen. Aber erlaubt mir doch zwischendurch einen gellenden Schrei, Tränen der Verzweiflung und die Angst um meine berufliche Existenz. Das bedeutet nicht, dass ich die kleinen, positiven Fortschritte nicht wahrnehme. Dass ich mich nicht über die Fruchtfliegen auf der Zimmerdecke freue, die ich endlich wieder sehen kann. Es bedeutet nur, dass es mir jetzt gerade nicht gut geht.