Der Zauber der Wahrnehmung

Eine Hirnhautreizung ist eine unangenehme Sache. Innenohrschwindel ebenfalls. Jeder Schritt fühlte sich seltsam an. Als müsse ich eigenartige und völlig unberechenbare Schwankungen der Erde ausgleichen, die nur ich allein wahrnehmen konnte. Meine Schritte waren langsam. Aus den geplanten ausgedehnten Spaziergängen mit dem Hund wurden schlussendlich doch nur kleine Runden, weil sich jeder zusätzliche Meter wie die gewagte Eroberung eines unsicheren Terrains anfühlte. „Entschuldige, bitte“, sagte ich. „Vielleicht geht es ja morgen.“ Das schlechte Gewissen plagte mich und ich fragte eine Freundin, ob sie den Vierbeiner noch einmal übernehmen könne. Mein Leid musste sich ja nicht zwangsläufig auf mein Gefolge ausdehnen.

So anstrengend die veränderte Sicht, der Schwindel und das trübe Bewusstsein auch waren, ich konnte der neuen Form meiner Wahrnehmung auch einiges abgewinnen. Der graue Fleck in der Mitte meines Gesichtsfeldes hatte sich gelichtet, ich konnte wieder Gesichter und Buchstaben erkennen und nun glitzerte die Welt auf ganz zauberhafte Weise. Da war so ein eigentümliches Schillern. Natürlich war es lediglich auf die Flüssigkeit unter meiner Netzhaut zurückzuführen, aber trotzdem. Sämtliche Dinge schienen von einer glänzenden Kontur umgeben zu sein. Manchmal zogen leuchtende Kugeln vorbei. „Na, ihr Feen. Besucht ihr mich in meiner verschwommenen Welt?“, fragte ich und blickte den Erscheinungen nach. Es ist verwunderlich, wie sehr die Definition von Realität von unserer individuellen Wahrnehmung abhängt. Wer kann also schon mit absoluter Gewissheit sagen, wo die Wahrheit aufhört und die Einbildung anfängt? Meine Glitzerkugeln kamen mir wie Wesen aus einer Welt vor, die irgendwo dazwischen liegt.

Ich hatte einen Teil meiner Gesundheit eingebüßt, mein Visus war nicht besonders gut und wie die ganze Sache mit diesem Vogt-Koyanagi-Harada Syndrom ausgehen würde, konnte mir niemand sagen. Aber irgendwie hatte ich auch etwas gewonnen. Ein bisschen Zauber, ein wenig Märchen in einer Welt, die mir vor wenigen Wochen noch so trist und hoffnungslos erschienen war. Ausgerechnet eine schwere Erkrankung lehrte mich nun das Gegenteil. Irgendwann wird mich das Schillern vielleicht nerven. Wenn ich allzu lange nicht Auto fahren kann oder es mich in einer anderen Form behindert und mein Leben langfristig einschränkt. Jetzt aber kann ich das Glitzern und all die schrägen Erscheinungen, die meine Augen produzieren, sogar genießen. Ein bisschen „Fear and Loathing in Las Vegas“ auf unbestimmte Zeit. Wer weiß, welche Geschichten sich dahinter verbergen. Warum fühlt sich das bloß wie ein Geständnis an?

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