Glüh, Würmchen, glüh

Wie seltsam ist es manchmal, wenn sich Dinge jähren. Wie ein Brennglas richten diese Jahrestage den Fokus auf das, was war, und das, was ist. Und auf all die Dinge, die auf dem Weg dazwischen passiert sind. Die verloren gingen oder gewonnen, sich verändert haben, zum Guten wie zum Schlechten. Vor einem Jahr saßen wir auf einer Bank und lernten uns kennen. Die Lichter der Stadt zu unseren Füßen, der Vollmond am Himmel hoch über uns und zwischen uns unzählige Glühwürmchen bei ihrem nächtlichen Tanz. Lange saßen wir da und froren nicht, weil es ein so warmer Tag gewesen war. An jenem Abend fragte ich mich schon, wo wir wohl in einem Jahr sein würden. Nicht annähernd hätte ich mir vorstellen können, was mich erwarten sollte.

“Ein Jahr”, schrieb ich ihm also. Draußen regnete es. Ohne einen Pullover konnte man kaum vor die Tür gehen, so tief waren die Temperaturen. “Ich wünschte, ich säße neben dir auf dieser Bank und könnte dein Gesicht sehen. Das eine ist aufwändig zu organisieren, das andere unmöglich.”
“Wir sehen uns wieder”, antwortete er. “Ich komme dich vielleicht besuchen. Bald. Wenn es die Zeit erlaubt.”
“Ich freue mich, dich dann zu sehen. Wenn es das VKH erlaubt.”
“Ich habe heute Glühwürmchen gesehen. Wie damals, vor einem Jahr.”
“Hier sind noch keine aufgetaucht. Vielleicht reicht meine Sehschärfe auch einfach nicht aus, um ihr schwaches Licht in all der Dunkelheit zu erkennen.”
“Halt die Augen offen und die Ohren steif, vielleicht entdeckst du eines.”

Das wollte ich versuchen und gab mir Mühe, diesen Tag nicht mit Tränen zu übergießen. Meine Augen waren doch schon so furchtbar müde von all dem Weinen. Glühwürmchen sah ich keins. Weder an jenem Abend noch an irgendeinem anderen in diesem Juni, in dem all die kleinen Dinge, die Gesichter und Buchstaben in einem grauen Nebel verschwammen. Augenlicht kann man verlieren, gute Freunde nicht. Wie seltsam. Vor einem Jahr hätte ich schwören können, dass es andersrum ist.

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