Guten Morgen, Spiegelbild

Ich sah mich wieder. Wenn ich morgens in den Spiegel blickte, konnte ich tatsächlich die Details in meinem Gesicht erkennen. Guten Morgen, Spiegelbild! Hier ein rotes Pünktchen, dort ein Fältchen, die Haare wirr – ein Produkt einer weiteren kurzen Nacht. Ich war aber auf der Suche nach etwas ganz Speziellem. Nach einer Lücke in meinen Wimpern oder einer ergrauten Stelle meiner Augenbrauen. Wurde die Haut um meine Augen herum blasser?

Das Vogt-Koyanagi-Harada Syndrom kann dazu führen, dass Haare im Kopfbereich stellenweise weiß werden. Poliosis nennt sich das und ich trete langsam in die Phase dieser Erkrankung ein, in der das möglich ist. Prinzipiell halte ich mich für einen nicht besonders eitlen Menschen. Solange die Frisur sitzt, bringt mich nichts so schnell zur Verzweiflung und ich kann relativ lange in den Spiegel sehen, ohne mich dabei selbst zu hassen. Aber wie wäre das, wenn meine Wimpern plötzlich weiß wären? Oder meine Augenbrauen gestreift wie der Schwanz eines Stinktiers? Und wie ist das mit dem Haarausfall? Das VKH-Syndrom kann auch zum Verlust von Wimpern und Augenbrauen führen, möglich ist ebenso das Ausfallen ganzer Strähnen im Kopfbereich. Natürlich wachsen die irgendwann nach, aber wie fühlt es sich an, so löchrig durch die Gegend zu laufen?

Ich versuchte mir einzureden, dass mir das nichts ausmachen würde und dachte dabei an eine enge Freundin, die zwei Jahre zuvor an Krebs erkrankt war. Wir waren gemeinsam in den Perückenladen gegangen und hatten ein passendes Modell für sie ausgesucht. Wir hatten gelacht, als sie die absurdesten Frisuren in allen nur erdenklichen Farben aufsetzte. Ich war dabei, als ihre Haare nach der ersten Chemotherapie auszufallen begannen und sie sich für eine Rasur entschied. Schnell weg mit allem, was sowieso weichen wird, um Platz für die Perücke zu schaffen. Ihr kleiner Sohn hüpfte auf ihrem Schoß herum, während eine Strähne nach der anderen zu Boden fiel. Was sind da schon ein paar graue Haare oder eine löchrige Frisur? Ich nahm mir vor, daran zu denken, sollte ich eines Morgens beim Duschen meine eigenen Haare in den Händen halten.

Vitiligo. Der Verlust der Pigmentierung an manchen Hautstellen. Beim Vogt-Koyanagi-Harada Syndrom kann es auch dazu kommen und deshalb fragten mich die Augenärzte bei jedem meiner Besuche nach meinem Hautzustand.
“Irgendwelche Veränderungen bemerkt? Weiße Stellen, weiße Haare?”
“Nein”, lautete meine Antwort bisher immer. “In welchem Zeitraum muss man damit denn rechnen?”
“Ach, das kann noch Jahre später auftreten”, sagte einer der Ärzte.
“Aha”, machte ich. Das würde dem allmorgendlichen Blick in den Spiegel wohl für eine ganze Weile noch etwas Nervenkitzel verleihen. Dabei geht es gar nicht sosehr um mein Aussehen, sondern um die Frage: Was macht diese Krankheit mit mir und meinem Körper? Es ist ein seltsames Gefühl zu wissen, dass es da Vorgänge in einem selbst gibt, über die man keine Kontrolle hat. Na gut, die meisten Körperfunktionen arbeiten nach diesem Prinzip und das ist wohl auch gut so. Aber im Zusammenhang mit einer Krankheit finde ich es … Ja, wie denn eigentlich? Bedrohlich wäre ein viel zu starkes Wort. Es geht immerhin nur im Pigmente. Eigenartig vielleicht. Ja, es ist einfach ein eigenartiges Gefühl.

Vielleicht wache ich morgen auf und meine Wimpern sind weiß. Geht das so schnell? Über Nacht? Oder ist das eher ein schleichender Prozess, den man anfangs gar nicht wahrnimmt? Fragen über Fragen. Ich wünschte, ich würde jemanden mit VKH kennen, der mir diese Dinge beantworten kann. Ich dachte an die Facebookgruppe und schob diese Möglichkeit gleich wieder beiseite. Da waren mir Impfdiskussionen in Elternforen noch lieber. Die waren wenigstens nicht nur frustrierend, sondern auch unterhaltsam.

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