Da war es also: das Ziel, die Null. Kein Kortison. Hatte es im Juni noch so ausgesehen, als sei es nie wieder möglich, ohne Medikamente zu leben, reduzierte sich die Dosis irgendwann bis zu einem Bereich, in dem der Körper es nicht länger als eine solch immense Belastung empfindet. Bei zehn Milligramm hielt ich für ein paar Tage den Atem an und rechnete mit dem Schlimmsten. Es kam nicht. Was für ein Glück.
Bei fünf Milligramm bereitete ich mich schon auf die Rückkehr der Symptome vor, aber nichts geschah. Mein Visus war schärfer als je zuvor.
Als es bei 2,5 Milligramm immer noch ruhig blieb, flammte in mir ein Gefühl der Unverwundbarkeit auf. Das würde klappen. Ja, es würde tatsächlich funktionieren. Ich würde das Kortison absetzen und nichts würde passieren. Es war mir kaum einen Gedanken wert, als ich diese winzige halbe Tablette morgens schlussendlich nicht mehr nahm. Null. Kein Kortison. Ich stieg auf die Waage, um zu überprüfen, ob das in den letzten Monaten angesammelte Gewicht bereits zu schmelzen begonnen hatte. Schnell hüpfte ich wieder hinunter. Manche Dinge brauchen eben mehr Zeit.
Eine Woche nach dem Absetzen kamen die Kopfschmerzen. Ein Druck, der sich von den Ohren bis zur Stirn ausbreitete. Mein Nacken war steif, es klingelte und dröhnte. Ich verstand nur die Hälfte von dem, was die Kinder mir sagten, und bestimmte Geräusche verursachten beinah Schmerzen. Es war ein Glück, dass der nächste Kontrolltermin im Krankenhaus vor der Tür stand und ich rechnete mit einem Aufflammen der Entzündung.
“Das sieht alles gut aus”, sagte der Arzt.
“Ok … Und die Kopfschmerzen? Vielleicht doch nur die Verspannung? Der Tinnitus könnte auch vom Stress kommen.”
“Hatten Sie denn Stress in letzter Zeit?”
Ich dachte an die vielen Stunden, die ich lernend mit dem Kind verbracht hatte, an die Arbeit und den Hund und diesen verdammten Haushalt und daran, dass mir ein Paketbote ins Auto gefahren war. Um den verdammten Schaden würde ich mich auch noch kümmern müssen und das Autohaus ist am anderen Ende der Stadt.
“Ein bisschen”, antwortete ich.
Der Arzt machte ein besorgtes Gesicht und schickte mich weiter. Notaufnahme. Neurologische Abklärung.
“Sie haben … WAS?”
“Das Vogt-Koyanagi-Harada-Syndrom”, antwortete ich und erklärte den Ärzten grob, was diese Erkrankung verursacht. Ich blickte in ratlose Gesichter.
“Nein, also Meningitis ist das keine”, sagten sie und ich nickte, denn ich war überzeugt, dass es bloß der Stress war, der sich in meinem Nacken verbissen hatte. Aber es wurde nicht besser. Das Sonnenlicht stach wie Nadeln in meine Augen, der Kopf war schwer, die Wirbelsäule schmerzte, beim Gehen wurde mir übel. Verdammt. Und jetzt? Wer ist denn zuständig, wenn die Augen ruhig sind und sich die Ärzte der anderen Fachrichtungen nicht mit der Erkrankung auskennen? Und wie sieht die Behandlung aus? Das Gefühl der Unverwundbarkeit … Ich wünschte es mir sehnlichst zurück. Mein Kortison ebenfalls. Wie schön ist die Welt mit Kortison und wie schmerzfrei der Körper. Nur Dauerlösung ist es keine. Es ist eigenartig, wenn der Körper etwas braucht, das ihn im Zaum hält, weil er sich andernfalls langsam selbst zerstört. Also machte ich mich auf den Weg ins Krankenhaus. Vielleicht fingen ja auch die Augen wieder an, dann würden die Augenärzte zumindest wissen, was zu tun war.