Ich habe in den letzten Tagen oft über meine Erkrankung gesprochen und erzählt, wie ich die ersten Wochen erlebt habe. Zum Teil stieß ich auf Unverständnis und Verwirrung.
“Aber das kann doch nicht so lang gedauert haben, bis du wieder etwas sehen konntest, oder? Nach ein paar Tagen war es bestimmt wieder gut.”
Nein, war es nicht. Aber … Habe ich wirklich so wenig gesehen? Ich konnte keine Gesichter erkennen, ich konnte nicht lesen, alles war um einiges dunkler, kontrastarm, komplett verschwommen und verzerrt. Das weiß ich noch, aber ich kann mich daran nicht erinnern. Ich weiß nicht mehr, wie ich gesehen habe. Das Seltsamste aber ist, dass die Bilder aus dieser Zeit in meiner Erinnerung scharf sind. Ich glaube zu wissen, wie besorgt mich meine Mutter angesehen hat. Aber das ist nur mein Gehirn, das natürlich weiß, wie meine Mutter in ernsten Situationen dreinschaut. Es zaubert Bilder in mein Gedächtnis, die ich so nie gesehen habe.
Und dann frage ich mich … Wie habe ich diese Zeit geschafft? Wie konnte ich die Kinder versorgen und im Straßenverkehr unterwegs sein? Langsam natürlich und mit höchster Vorsicht. Und auch nur auf jenen Wegen, die ich sowieso jeden Tag nahm. Jeder neue Ort war mit viel Unsicherheit verbunden. Waldspaziergänge mit dem Hund zum Teil auch mit Angst. Ist dort jemand? Kommt uns etwas entgegen? Was taucht dort hinter dem Baum auf? Es ist bedrohlich, wenn man nicht sieht, was auf einen zukommt. “Können Sie etwas sagen? Ich erkenne Sie nicht”, wollte ich manchmal mit klopfendem Herzen bitten und kam mir unglaublich blöd vor.
Es ist erstaunlich, wie schnell der Mensch vergisst. Wie rasch die Erinnerung verblasst und nur noch Fragmente erhalten bleiben. Ich habe mich in den letzten Tagen intensiv mit dem Begriff “Blindheit” beschäftigt und gelernt, dass diese sehr genau definiert ist. Natürlich. Was sonst? Mir kommt der Satz “Ich war kurzzeitig blind” oft über die Lippen, aber war ich das wirklich? Ganz blind vermutlich nicht, aber stark sehbehindert. Für mich, die im Normalfall auf eine relativ schwache Brille angewiesen ist, war es aber wie eine plötzliche Erblindung. Und ich frage mich seitdem: Wie schaffen blinde Menschen das? Diesen mühsamen Alltag, der auf die Sehenden ausgelegt ist. An dieser Stelle möchte ich mich bei all jenen entschuldigen, die sich vielleicht durch den ein oder anderen Ausdruck auf dieser Seite vor den Kopf gestoßen fühlen. Mich hat diese Erkrankung nur so aus der Bahn geworfen, dass ich mir über Begriffe vorerst keine Gedanken gemacht habe.